Kompass-Newsletter Nr. 79 - 06/2019

WatchTheMed Alarm Phone: Umkämpfte Routen im Mittelmeer +++ Sea Watch nach Rettungseinsatz und Konfiszierung wieder frei +++ 11.-14.6. in Kiel: Konferenz von Jugendliche ohne Grenzen und am 12.6. Bündnis-Demo zur Innenministerkonferenz +++ 13./14. Juni in Berlin: Kongress „Sichere Häfen - Leinen los für kommunale Aufnahme“ +++ 18.6. in Hamburg: Veranstaltung Familien haben ein Recht auf gemeinsames Leben +++ 28.-30. Juni in München: Solidarity City Konferenz +++ 9.-14. Juli bei Nantes/Frankreich: Transborder Summer Camp +++ Erneute Skandalisierung der Pushbacks an kroatisch-bosnischer Grenze +++ Neue Berichte von bordermonitoring.eu  +++ Rückblick: Aktion in Berlin: Eine Rettungsweste für "Molecule Man" +++ Ausblicke: 24. August: Großdemonstration in Sachsen; 31.8. in Büren: Grossdemo gegen 100 Jahre Abschiebehaft

Liebe Freundinnen und Freunde!

Wie schon in den letzten beiden Monaten starten wir den Newsletter wieder an einer der umkämpftesten Routen - im zentralen Mittelmeer. 

Mittwoch, 29. Mai 2019, 22 Uhr: Ein Notruf eines Satellitentelefons erreicht das WatchTheMed Alarm Phone. Ein Boot mit 90 bis 100 Personen. Sie schicken eine GPS-Position, die zeigt, dass sie schon 90 Meilen von der libyschen Küste hinter sich gebracht haben, aber noch ca. zehn Meilen von der maltesischen Such- und Rettungszone entfernt sind. Das Schichtteam erfährt, dass die Moonbird, das Aufklärungsflugzeug der Sea Watch, am Vormittag das gleiche, zu dieser Zeit noch fahrtüchtige Boot bereits den offiziellen Rettungsstellen in Rom und Malta als SOS gemeldet hatten. Moonbird hatte aus der Luft auch ein in der Nähe befindliches italienisches Marineschiff gesichtet, doch trotz mehrfacher Aufforderung verweigerte dieses den Rettungseinsatz. Rund 12 Stunden später ruft das Boot das Alarm Phone um Hilfe. Der Motor ist ausgefallen, sie driften. Trotz dringlicher Anrufe, Emails und Twitter verweigern die Behörden in Rom und Valetta ihre Zuständigkeit und verweisen auf Libyen. Wie fast immer in den letzten Wochen. Das Alarm Phone Team bleibt die gesamte Nacht in stündlichem Kontakt mit dem Boot, es gilt zu beruhigen, Mut zuzusprechen und bei den Behörden immer wieder auf die Pflicht zur Rettung nach Europa zu insistieren. Am Morgen greifen JournalistInnen in Italien den Fall auf, auch Parlamentsabgeordnete schalten sich ein. Der öffentliche Druck wächst und um 9.05 Uhr melden sich die völlig erschöpften Menschen vom Boot beim Alarm Phone mit der Nachricht, dass jetzt ein italienisches Schiff gekommen sei und rette. 15 Minuten später die Bestätigung über italienische Medien. Dasselbe italienische Navy-Schiff, das am Vortag die Rettung noch verweigert hatte.

Unterlassene Hilfeleistung, Sterben-Lassen auf See, Abfangen nach Libyen um jeden Preis: das bleibt die dominante Realität im zentralen Mittelmeer. Gleichzeitig schaffen es vermehrt wieder Boote eigenständig bis an die sizilianische Küste. Und auch das oben erwähnte Boot hatte sich schon so weit nach Norden durchgekämpft, dass libysche Milizen es schwerlich erreichen konnten und angesichts des öffentlichen Drucks ein offensichtliches Ertrinken-Lassen nicht möglich war. Das Überleben und die Rettung von 100 Menschen als kleiner Erfolg in einem Meer der Ungerechtigkeit, in einem Europa, in dem das Sterben-Lassen als Mittel der Abschreckung zur Normalität geworden ist. 

Das Alarm Phone hatte in der gleichen Nacht zwei Boote in der Ägäis unterstützt, in den Tagen zuvor dasselbe zwischen Marokko und Spanien. Alltag im Kampf gegen das EU-Grenzregime. Niemals aufgeben als Devise, der Geflüchteten und MigrantInnen wie auch der Unterstützungsnetzwerke. Wir kämpfen um jedes Leben, für das Recht zu kommen - und zu bleiben.

Hamburg, am 18. Mai: Solidarity City- und BürgerInnenAsyl-Gruppen treffen sich beim Recht auf Stadt-Forum zum bundesweiten Austausch. Das Envilago, ein von New Hamburg aufgebauter Pavillon mit Ausstellungsmaterialien, bietet einen informativen Treffensraum für eine produktive Workshop-Reihe: zum BürgerInnenAsyl, zu Schutzräumen und Willkomenszentren, zu City-Maps und City-IDs. Zehn Städte und vielfältige Erfahrungen sind vertreten, die praktischen Fragen, Probleme und Möglichkeiten stehen im Vordergrund. Wie blockieren wir den Abschiebeterror? Wie schaffen wir bessere Strukturen, um Illegalisierten Wohnraum und Zugang zu sozialen Rechten zu verschaffen? Wie lassen sich Kontakte und Kooperationen in und mit den Communities ausbauen? Welche Projekte bringen unterschiedliche soziale Gruppen zusammen?

Ein Wochenende zuvor, am 12. und 13. Mai, gab es gleichzeitige dezentrale Demonstrationen und Kundgebungen vor allen deutschen Abschiebeknästen. „100 Jahre Abschiebehaft - 100 Jahre unschuldig in Haft“, so der Titel der Kampagne. Dazu das passende aktuelle Fazit eines Fachanwalts: „…Seit 2001 habe ich bundesweit 1.809 MandantInnen in Abschiebungshaftverfahren vertreten. 873 dieser MandantInnen (d.h. knapp 50 %) wurden nach den hier vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert (manche "nur" einen Tag, andere monatelang). Zusammengezählt kommen auf die 873 MandantInnen zweiundzwanzigtausendsiebenhunderteinundsiebzig (in Zahlen 22.771) rechtswidrige Hafttage (das sind rund 62 Jahre rechtswidrige Inhaftierungen!). Im Durchschnitt befand sich jeder/r Mandant/in knapp 4 Wochen (26,1 Tage) zu Unrecht in Haft….“ Abschiebehaft abschaffen! Dazu gab es in den letzten Wochen Veranstaltungen und Filme in über 30 Städten, die nun für den 31. August zu einer gemeinsamen Demo vor dem Knast in Büren mobilisieren.

Damit zurück in die Zukunft: Über 500 Aktive haben sich für das Transborder Summer Camp in Frankreich im Juli angemeldet. Zum Austausch und für strategische Debatten, transnationaler zusammengesetzt denn je, mit Gruppen quer durch Europa und aus zahlreichen afrikanischen Ländern. Zentrales Thema: Korridore der Solidarität. Oder konkreter: der Auf- und Ausbau von Infrastrukturen entlang aller Routen der Flucht und Migration. Mit Rettungsschiffen und Alarm Phones, mit angemieteten Rasthäusern, besetzten Zentren und sozialen Treffpunkten, mit Beratung im Transit und multilingualen Info-Leitfäden. Das Recht auf Bewegungsfreiheit praktisch und transnational ausbuchstabiert, in Zeiten zugespitzter gesellschaftlicher Polarisierungen, nicht nur in Frankreich und Germany.

Dazu passend: für den 24. August trommeln Unteilbar, We`llCome United und Seebrücken zur Großdemo nach Dresden. Jetzt erst recht! Mit Bezug auf die Europa- und Kommunal-Wahlergebnisse in Sachsen. Die AfD vor allem in den kleineren Städten immer noch im Aufwind, trotz „Ibizagate“ der Vorbildpartei FPÖ in Österreich. Kaum zu fassen und schon gar nicht hinnehmbar.

Im Mittelmeer, in den Städten, vor den Knästen, in Sachsen wie in Nantes: (Infra)Strukturen aufbauen! Solidarität muss praktisch werden.

In diesem Sinne, das Kompass-Team